Die
Bilder im Geist des Menschen, die entstehen, wenn er im Gleichgewicht der
Wirklichkeit ist,[i]
werden je im Augenblick in der Einheit mit der wahrgenommenen Umwelt erzeugt.
Sie sind also keine eingebildeten Illusionen oder Imaginationen, sondern die
Wirklichkeit selbst ohne Dualität.
Sie
sind dann real, weil der Geist nicht aus
der Gegenwart und vom jeweiligen Ort in ferne Zeiten und Welten abwandert. Es
sind keine ungenauen oder verzerrten Bilder der Erinnerung aus der
Vergangenheit oder Vorstellungen von der Zukunft, die häufig mit der jetzigen
Realität verwechselt werden und sich vor die Wahrnehmung der Bilder der
jeweiligen Gegenwart schieben, indem sie diese verdecken oder verzerren.
Nishijima
und Cross betonen, wie schwer es oft ist, diese beiden Typen von Bildern zu
unterscheiden.[ii]
Der gelehrte Inder Sanzō war sicher überhaupt nicht in der Lage, eine solche
Unterscheidung zu treffen.
„Die Geist-Leser mögen die Bilder (zwar) verschwommen
in den äußeren Umrissen mit der Wahrnehmung erkennen, die im Geist (der
anderen) aufsteigen. Bei Abwesenheit (solcher) Bilder im Geist sind sie jedoch
verblüfft (und hilflos), das muss lachhaft sein.“
Bekanntlich
verschwinden Gedanken, Vorstellungen und Bilder gerade im Zustand des Zazen.
Die bisweilen gepriesenen übernatürlichen Kräfte sollten daher aus Dōgens Sicht
nicht weiter beachtet werden, und er erklärt zusammenfassend, „dass die Kraft,
den Geist anderer zu lesen, nicht (einmal) die Außenbereiche der Weisheit
Buddhas erreichen kann“. Deshalb sei der indische Gelehrte Sanzō ein
gewöhnlicher Mann. Ein wirklicher Austausch, ein Dialog und eine wirkliche
Begegnung mit dem Landesmeister seien daher unmöglich.
Mit Nachdruck erläutert Dōgen,
dass Meister Daisho denselben Stand wie Gautama Buddha selbst erlangt habe;
auch unter den Vorfahren im Dharma des alten China sei er ein ganz
herausragender großer Meister. Eine mutige Aussage Dōgens, denn im Buddhismus
wird Gautama Buddha häufig fast göttergleich und unerreichbar für alle anderen
Menschen verehrt. Dies widerspricht allerdings der buddhistischen Grundlehre,
dass jeder Mensch die Fähigkeit besitzt, die Wahrheit und Erleuchtung zu
erlangen, also den Geist der Buddha-Natur verwirklichen kann.
Dōgen
seine Überlegungen noch einmal zusammen: Die Kritik des nationalen Meisters
Daisho an dem Gelehrten Sanzō sei vollkommen berechtigt, weil dieser niemals
den Buddha-Dharma gesehen, gehört und gelernt habe. Er habe damit die große
Chance vertan, selbst von Meister Daisho auf dem Weg des Buddha-Dharma zu
lernen und sich auf seiner China-Reise von den dortigen Vertretern des Zen anregen
zu lassen.
Durch seine Anmaßung, selbst zu glauben und
öffentlich zu verkünden, er könne den Geist des Landesmeisters erkennen, habe
er sich vollständig ins Abseits gestellt. Es nütze ihm auch nichts, dass er aus
Indien gekommen war, das im China der damaligen Zeit sehr geschätzt wurde, weil
dort Buddha gelebt hatte und die
Lehre von dort durch Bodhidharma in
den Osten gebracht worden war.
„Wenn wir jetzt sagen, dass es die Kraft gibt, den
Geist der anderen im Buddha-Dharma zu erkennen, muss es die Kraft geben, den Körper der anderen zu kennen, muss es
die Kraft geben, die Faust (das
Handeln) der anderen zu kennen, und es muss die Kraft geben, die Augen der anderen zu erkennen.“
Für Dōgen gibt es eine
Einheit, welche die hoch entwickelten Zen-Meister, die zur Wahrheit gelangt
sind, unauflösbar verbindet:
„Geist,
Körper, Handeln und Erkennen mit den Augen müssen auf dem Buddha-Weg so weit
entwickelt worden sein, dass (es möglich ist), einen anderen im Buddha-Dharma
zu erkennen.“
Dies leuchtet auch
unmittelbar ein: Wenn wir einem wahren Zen-Meister oder einer wahren
Zen-Meisterin direkt begegnen, findet ein unmittelbares intuitives und klares
Erkennen des Zustandes des anderen Menschen statt. Genau im Augenblick besteht
dann eine Einheit zwischen den Menschen, also eine Verschmelzung des Geistes
beider. Dadurch sind Dialoge möglich, die über die enge Bedeutung der Worte und
Sätze hinausgehen. Der Dialog überschreitet dann die Grenzen der Worte und des
üblichen Denkens. Der Austausch von Worten und Begriffen geht in einen Zustand
einer höheren lebenden Einheit über, die durch Klarheit, Kreativität und hohe
Relevanz für beide gekennzeichnet ist.
„(Weil) das so ist, muss es die Kraft geben, den
eigenen Geist zu erkennen, und muss es die Kraft geben, den eigenen Körper zu
erkennen. Wenn ein solcher Zustand schon besteht, mag die Selbststeuerung
unseres eigenen Geistes nichts anderes als die Kraft sein, den eigenen Geist zu
erkennen.“
Grundlage der Fähigkeit, den
Geist anderer zu „erkennen“, ist die Fähigkeit, sich selbst klar zu erkennen,
und zwar in der Ganzheit von Körper-und-Geist. Aber letztlich kann der Geist
niemals vollständig erfasst werden.