Dōgen
geht auf die Absicht des großen Landesmeisters Daisho ein. Dieser forderte den
indischen Gelehrten Sanzō auf:
„Sag mir, wo
ich jetzt bin, (dieser) alte Mönch?“
Dies
zielte darauf ab, ob der indische Gelehrte Sanzō
wahre Augen hatte, um den
Buddha-Dharma wirklich zu sehen und zu
hören. Denn mit theoretischem Wissen allein besitzt man nicht die Kraft,
sich selbst und den Geist anderer richtig zu erkennen! Das wissen wir auch aus
der neueren Gehirnforschung. Dies gilt umso mehr, wenn es sich um den Geist der
Lehre und Praxis des Buddha-Dharma handelt.
Nun
verfolgt Dōgen eingehend die Frage, was genau in diesem Augenblick und an diesem
Ort wirklich geschieht. Das führt zu der wichtigen Aussage von Meister Fuke, die im Kapitel „Die Wirklichkeit
des Raumes“[i]
erläutert wird:
„Dies ist
ein Ort, wo etwas Unfassbares existiert.“
Meister
Fuke ist der große Meister, auf den
sich die Meditations-Flöte der Shakuhachi beruft. Da ich fast täglich selbst
auf dieser Bambus-Flöte spiele, muss ich häufig an ihn denken: ein ganz ungewöhnlicher ehrlicher
´Zen-Knochen´.
Die
Antworten des Inders Sanzō sind allerdings viel zu vordergründig und materiell,
weil sie die angeblich äußere Welt zum Inhalt haben. Sie basieren daher auf dem
Dualismus, also auf der Trennung von Subjekt und Objekt, und gehören nur der
zweiten Lebensphilosophie nach Nishijima Roshi an. Der Dualismus wird bei der
Shakuhachi gerade ausgeschaltet.
Für
den Meister Daisho stand nun fest, dass der Gelehrte keine Fähigkeit besaß, den
Geist eines buddhistischen Meisters zu erkennen oder sogar in dessen Geist zu
lesen. Dies musste sich der indische Gelehrte gefallen lassen, ohne dass er den
verbalen Angriff parieren konnte. Sein Ansehen war damit sicherlich ruiniert,
und dies wurde wohl auch dem Kaiser übermittelt.
Damit
unterstreicht Dōgen, dass der Inder gegenüber dem Kaiser und dem Landesmeister
mit seinen übernatürlichen Fähigkeiten geprahlt
hatte, und er macht deutlich, dass sich Sanzō zu keinem Zeitpunkt des Gesprächs
im Zustand des Buddha-Dharma, also
des Erwachens oder der Erleuchtung, befand. Dafür findet er drastische Worte:
„Es ist der höchste Schwachsinn zu
meinen, dass (der Körper-und-Geist des Meisters) auf demselben Niveau eines
Lehrers der Sūtras und Kommentare ist.“
Dōgen
spitzt seine Kritik weiter zu:
„Was in
Indien ‚die Kraft, den Geist anderer zu kennen‘ genannt wird, sollte außerdem
(besser wie folgt) bezeichnet werden: ‚Die Kraft, Bilder im Geist der anderen
zu erkennen‘.“
Derartige
Bilder und Ideen sind aber nach Zen-buddhistischer Lehre weitgehend Illusionen
und Vorstellungen. Sie sind nicht in der Einheit der Wirklichkeit des offenen
Selbst[ii] mit
anderen Menschen und der Umwelt, sondern isolierte Tätigkeiten des Gehirns; sie
bleiben also nach der Lehre Nishijima Roshis auf der ersten Ebene der Ideen und des Idealismus hängen. Auf
dieser Ebene gibt es vor allem die Traumbilder, wenn der Geist aus dem Hier und
Jetzt in erträumte oder gefürchtete Scheinwelten abwandert.
Laut
Dōgen mag es in Indien bestimmte Bevölkerungsgruppen geben, die sich eine Kraft
erarbeitet haben, die Gedanken anderer zu lesen. Aber ohne den Bodhi-Geist zu
erwecken und ohne die wahre Sichtweise und Praxis des großen Fahrzeugs
(Mahāyāna) als Grundlage zu besitzen, ist diese Kraft für den Buddha-Weg nicht
hilfreich. Er bezeichnet solche Menschen nicht als Buddhisten, sondern als
gewöhnliche Menschen, die in die Wahrheit Buddhas nicht eingegangen sind.
Er
begründet dies auch damit, dass die großen Meister und Vorfahren im Dharma sich
nicht darum gekümmert haben, als Erstes
die Kraft zu erlernen, den Geist anderer zu erkennen und in ihm zu lesen.
Wenn dieser Fähigkeit eine so hohe Bedeutung zukäme, hätten die Meister sie
sicher am Anfang auf dem Weg des Buddha-Dharma gelernt und praktiziert. Dōgen
stellt also fest, dass diese sogenannten übernatürlichen
Kräfte auf dem Buddha-Weg völlig nutzlos sind und keine Bedeutung haben.
Der
entscheidende japanische Begriff nen,
der hier im japanischen Text verwendet wird,
hat noch eine wichtige Bedeutung im Zen: nämlich die Bilder im Geist des
Menschen, die dann entstehen, wenn er im Gleichgewicht
der Wirklichkeit ist.[iii]