Dieses Kapitel des Shōbōgenzō heißt im Japanischen Tashintsū. Ta bedeutet im Deutschen „die anderen“, shin heißt „Geist“, und tsū ist
die Abkürzung von jinzū und lässt
sich übersetzen mit dem Begriff „mystische Kraft“. Der
Titel lautet also wörtlich: „Die (mystische) Kraft, den Geist der anderen zu
kennen“.[i]
Bereits in einem anderen Kapitel über diese mystischen, „übernatürlichen“
Kräfte des Lebens[ii]
hat Dōgen klargestellt, dass sie für den wahren Buddhismus nicht von großer
Bedeutung sind, obgleich sich manche Menschen solche Energien und Kräfte
intensiv wünschen.
Viele Märchen, Mythen und nicht zuletzt die
modernen elektronischen Medien stellen solche großartigen Fähigkeiten und
Leistungen bestimmter Helden oder Bösewichte in den Mittelpunkt und faszinieren
damit ein großes Publikum immer wieder aufs Neue. Sicher möchte man manchmal
gerne Gedanken lesen können, nicht zuletzt um herauszufinden, ob der andere die
Wahrheit sagt oder etwas Wichtiges verbirgt. Aber sind solche wundersamen
Fähigkeiten wesentlich für den buddhistischen Weg?
Dieses Kapitel ist eine
wesentliche Klarstellung und Ergänzung zu Dōgens Ausführungen und Analysen über
den Geist. Es beinhaltet eine Kōan-Geschichte über den Inder Sanzō, der nur vorgibt, den Geist eines
Meisters zu kennen und erweitert damit die Analyse des Zen-Geistes um
wesentliche Dimensionen. Das darin behandelte berühmte Kōan-Gespräch zwischen
dem großen Meister Daisho und dem
gelehrten indischen Mönch Sanzō wird
auch an anderer Stelle des Shōbōgenzō
untersucht Anhand dieses Gesprächs soll Dōgens hier ein umfassendes Verständnis
des Zen-Geistes weiter herausgearbeitet werden.
Sanzō hielt sich am Hofe des
chinesischen Kaisers auf und traf mit dem großen Meister Daisho zusammen, der
für den Kaiser prüfen sollte, ob Sanzō den Geist anderer erkennen konnte, wie
er selbst behauptet hatte. Daisho und Sanzō reden dabei aus meiner Sicht in
grotesker Weise aneinander vorbei. Dadurch stellt Dōgen glasklar heraus, was
das Besondere des umfassenden Zen-Geistes ist.
Während der Inder Sanzō unter dem Geist
bestenfalls nur die Fähigkeit begreift, die Gedanken oder Bilder im Gehirn
eines anderen zu erkennen, besitzt Meister Daisho die umfassende Erfahrung und
Praxis des Zen-Geistes, die Körper, Geist und die Welt einbeziehen und
keinesfalls nur auf einzelne Gedanken und Bilder im Gehirn beschränkt sind.
In
einigen esoterischen Gruppen besteht auch heute noch der verschwommene Glaube,
dass durch intensive und ausdauernde Praxis die mystische Fähigkeit erlernt
werden könnte, den Geist der anderen Menschen zu erkennen. Aber was ist der
Geist, und ist er dasselbe wie Gedanken, Vorstellungen und Bilder? Sicher
nicht.
Meister
Daisho stellte Sanzō die scheinbar
einfache Frage:
„Sag mir, wo
ich jetzt bin, (dieser) alte Mönch?“
Er
geht hier gar nicht auf die behauptete Fähigkeit Sanzōs ein, zu erkennen, welche
Gedanken, Vorstellungen oder Bilder sich im Geist Meister Daishos gerade
befinden, sondern stellt eine scheinbar ganz allgemeine Frage. Es geht ihm
zunächst offensichtlich nicht darum, die behauptete übernatürliche Fähigkeit zu
prüfen, sondern er möchte die theoretischen
und praktischen buddhistischen Grundlagen des Inders kennenlernen. Er
möchte wissen, inwieweit bei Sanzō die Essenz des Buddhismus der eines wahren
Zen-Meisters gleichkommt.
In Daishos scheinbar simplen
Frage sind mehrere wichtige Teilfragen enthalten: Es geht um den Ort, wo sie
sich beide befinden, um das Jetzt der Gegenwart und darum, was ein Mensch und
Mönch wie Daisho wirklich ist. Dahinter verbirgt sich allerdings auch die
Frage, inwieweit der Geist überhaupt
erfasst werden und inwieweit dies in Worten ausgedrückt werden kann.