Die konkrete Wirklichkeit
muss radikal von den Begriffen und
Gedanken unterschieden werden. Dies gilt nicht zuletzt für den Begriff der Existenz selbst, der allzu leicht in
philosophische Abstraktionen abgleitet und damit gerade seine Wirklichkeit
verliert.
„Totale Existenz sind Buddhas Worte, Buddhas
Zunge, sind die Augen der Nachfolger im Dharma und die Nasenlöcher der
Flickenmönche.“
Die Nasenlöcher sind ein Symbol
für das wirkliche Leben, weil der Atem durch sie ein- und ausströmt; ihm kommt
auch in der Meditation seit Buddhas Zeiten eine zentrale Bedeutung zu. Dagegen
sind theoretische Begriffe des Buddhismus wie beginnende Existenz, ursprüngliche
Existenz oder feine Existenz
nicht das Wesentliche der Buddha-Natur. Gleiches gilt für die Begriffe Essenz und Form sowie Geist und
Umstände. Solche Begriffe und Ideen müssen erst mit der Wirklichkeit des Hier
und Jetzt verschmolzen werden, sonst bleiben sie abstrakt und wenig kraftvoll. Dies ist m. E. auch die zentrale Botschaft Nagarjunas im Mittleren Weg des MMK:
Später verwendete buddhistische Begriffe sind häufig das Gegenteil der wahren Bedeutung von Buddhas authentischer Lehre.
Abstraktionen sind
ungeeignet, um die Buddha-Natur zu beschreiben, denn sie ist die „totale (konkrete) Existenz“. Sie lässt
sich selbstverständlich nicht nach Maß, Zahl oder Gewicht ermessen, sodass
Vorstellungen und Begriffe wie groß und klein ebenfalls nicht zutreffend sind.
Sogar die Vorstellungen vom
„Heiligen“ oder der „Buddha-Natur“ müssen überwunden werden, um zur
Wirklichkeit vorzudringen.
Die totale Existenz der Buddha-Natur kann man auch nicht mit
Vorstellungen von karmischen Verdiensten
oder als Ansammlung von positivem Karma beschreiben. Derartige Theorien hat es gerade
im Buddhismus auch gegeben. Die unmittelbare Erfahrung im Gleichgewicht der
großen Heiligen und Meister geht nach Dôgen über solche Beschreibungen und Vorstellungen
hinaus. Das sogenannte karmische Bewusstsein versetzt den Menschen in Unruhe, es
ist dauernd in Bewegung und im Ungleichgewicht: Es lässt den Geist umherwandern
und führt vom Augenblick fort.
Karmisches Bewusstsein ist auf
das eigene Verdienst ausgerichtet und
verlagert die angestrebten Ergebnisse in die Zukunft, zum Beispiel beim Glauben
an die Wiedergeburt im zukünftigen nächsten Leben. Das ist kein unmittelbares
Handeln im Augenblick, deshalb kann die Buddha-Natur dadurch nicht verwirklicht
werden. Sie ist auch nicht das denkende Bewusstsein neben der Wirklichkeit, das im alten China als „zweiter Mensch“
bezeichnet wurde.
Die Buddha-Natur zeichnet
sich durch eine umfassende Klarheit der Gegenwart aus, und daher ist „das ganze Universum für einen Erleuchteten
nicht verborgen“, erklärt Dôgen. Und er fügt hinzu: „‚Das ganze Universum sei mein Besitz‘ ist die falsche Sichtweise der
Menschen außerhalb des Buddha-Weges.“ Im eigentlichen Sinne kann man nur
Materielles besitzen, nicht aber die totale Existenz des Universums und die
Buddha-Natur. Materialisten überschätzen im Allgemeinen die Bedeutung des
materiellen Besitzes bei Weitem, denn auch das Materielle kann letztlich nicht
dauerhaft gehalten und besessen werden.
„(Das ganze Universum) durchdringt die
ewige Vergangenheit und durchdringt die ewige Gegenwart.“
Die wahre Existenz entsteht
auch nicht später neu, zum Beispiel durch das Anhäufen guten Karmas und durch
meditative Anstrengung, die eine zukünftige
Erleuchtung anstrebt. Zen-Meditation ist sich selbst im Augenblick genug, denn
dadurch „empfängt sich das Selbst“.[i]
Dôgen betont das Typische
des Alltagshandelns im Zen-Geist und im höchsten Zustand: „Der Alltags-Geist ist die Wahrheit.“[ii] Totale
Existenz ist ein Zustand, in dem das Zentrum des Lebens von der Wahrheit
durchdrungen wird und in dem wir frei werden. Damit hat Dôgen in einem
beeindruckenden großen Bogen ganz wesentliche Kernpunkte der buddhistischen
Lehre beschrieben. Er baut dabei auf die fundamentalen Kapitel auf, die er
vorher verfasst hatte: „Das Streben nach der Wahrheit (Bendôwa)“[iii], „Das
verwirklichte Leben und Universum (Genjô-kôan)“[iv], „Die
Sein-Zeit (Uji)“[v], „Der
Geist hier und jetzt ist Buddha (Soko
shin ze butsu)“[vi],
„Erzeugt kein Unrecht und erlangt die Freiheit! (Shoaku
makusa)“[vii], „Der
Geist kann mit dem Verstand nicht erfasst werden (Shin fukatoku)“[viii]
und „Der ewige Spiegel oder das intuitive Wissen
(Kokyô)“[ix].
[i] Nishijima, Gudo Wafu; Seggelke, Yudo J.: Die Kraft der ZEN-Meditation. Im Auge
des Zen, Bd. 4, S. 35 ff.
[ii] Shinji Shobogenzo, Bd. 1, Nr. 19
[iii] Kap. 1, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 26 ff.: „Ein
Gespräch über das Streben nach der Wahrheit (Bendōwa)“
[iv] Kap. 3, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 43 ff.: „Das
verwirklichte Leben und Universum
(Genjō-kōan)“
[v] Kap. 11, ZEN Schatzkammer Bd. 1, S. 110 ff.: „Die
Sein-Zeit der Wirklichkeit im Hier und Jetzt (Uji)“
[vi] Kap. 6, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 72 ff.: „Der
Geist hier und jetzt ist Buddha (Soko
shin ze butsu)“
[vii] Kap. 10, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 100 ff.:
„Erzeugt kein Unrecht und erlangt die Freiheit! (Shoaku makusa)“
[viii] Kap. 18 und 19, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 161 ff.:
„Der Geist kann mit dem Verstand nicht erfasst werden, erste Version (Shin fukatoku)“
[ix] Kap. 20, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 171 ff.: „Der
ewige Spiegel oder das intuitive Wissen (Kokyō)“