Dôgen distanziert sich von
denjenigen, die sich die Buddha-Natur als eine
kleine Einheit vorstellen, zum Beispiel wie ein Samenkorn. Und er zitiert,
was sie fälschlicherweise behaupten:
„Die Buddha-Natur ist wie der Samen
einer Pflanze oder eines Baumes. Wenn der Regen ihn wieder und wieder
bewässert, beginnen die Knospen und Triebe zu wachsen. Dann sind zahlreiche
Äste, Blätter, Blumen und Früchte da, und die Früchte geben erneut die Samen.“
Dôgen bezeichnet solche
Vorstellungen als „sentimentales Denken“
der gewöhnlichen Menschen, die eine naive, unreflektierte Meinung über die
Buddha-Natur haben.
Ich folge ihm darin, dass
jede dinghafte Vorstellung von der
Buddha-Natur unsinnig ist. Zwar ist das Bild eines Samens, der eine Pflanze,
Blüten und Früchte hervorbringt, eigentlich ein schönes Gleichnis, aber es geht
vollkommen am Wesentlichen der Buddha-Natur vorbei. Warum? Wenn wir uns
zunächst auf den Menschen fokussieren, ist die Buddha-Natur seine eigentliche
ganzheitliche Natur, nicht zuletzt im Verhältnis zu anderen Menschen, zur
Umwelt und zum Universum. Sie ist also seine Wahrheits-Natur, sein wirkliches Wesen, aber niemals eine
abgegrenzte Entität.
Sie verwirklicht sich
ganzheitlich im Augenblick und ist niemals statisch. Die Buddha-Natur ist
nichts mehr und nichts weniger als die wahre, erwachte lebende Natur des
Menschen. Die zentrale Frage ist dabei, wie sich die Buddha-Natur verwirklicht.
Im Laufe dieses Kapitels beschreibt Dôgen in diesem Sinne aus verschiedenen
Perspektiven diese Buddha-Natur und grenzt deren Verständnis und Erfahrung
gleichzeitig eindeutig von falschen
Lehren ab.
Als Nächstes argumentiert
Dôgen im Sinne der Sein-Zeit, also
der Augenblicklichkeit aller wirklichen
Dharmas – der Dinge und Phänomene dieser Welt –, dass die Samen, Blüten und
Früchte im Augenblick jeweils genau für sich real bestehen. Der Prozess ihres
Wachsens und ihrer Entwicklung ist ein gedachter oder erhoffter zeitlicher Zusammenhang, der durch den denkenden Verstand
hinzugesetzt wird. Er ist die eine Seite unserer materiellen Welt. In der
genauen Wirklichkeit des erwachten Geistes des Augenblicks gibt es einen
solchen Prozess und einfachen Zusammenhang jedoch nicht , deshalb sei dieses
Gleichnis für den erwachten Zustand des
Augenblicks grundsätzlich unbrauchbar:
„In den Früchten gibt es Samen. Die
Samen ergeben jeweils eigenständig die Zweige, Blätter und Blüten, die für sich
stehen und jeweils im Augenblick Wirklichkeit sind. Sie sind jeweils Tatsachen
in einer vielfältigen realen Welt.“
Damit erweitert Dôgen die
Sicht auf die Samen, Pflanzen, Blüten und Früchte selbst, indem er betont, dass
sie jeweils die wahre Wirklichkeit des Augenblicks und damit Buddha-Natur sind.
Weiterhin ist wichtig, dass Pflanzen durch ihre Gen-Struktur weitgehend
festegelegt und determiniert sind. Dagegen haben wir Menschen ein fast unbegrenztes Potential der Entwicklung und Emanzipation und sind nur in gewissem
genetisch Umfang festgelegt. Buddha beschreibt einen solchen Weg der
Entwicklung und Emanzipation in eindringlicher Weise im Achtfachen Pfad.
In mehreren tiefgründigen
Kapiteln des Shôbôgenzô arbeitet Dôgen
heraus, dass die belebte und unbelebte Natur in der Wechselwirkung und
Gesamtheit mit uns Menschen von zentraler Bedeutung für unser Leben sind.[i] Er
versteht auch und sogar die nicht-empfindenden Wesen, wie zum Beispiel Blumen
und Bäume, als Gleichnis für die Erleuchtung selbst, da sie nicht durch
Emotionen, Affekte und Gedanken aus dem Gleichgewicht gebracht werden und
nichts übertrieben und nichts weglassen wird.