Die Buddha-Natur wird häufig
nur idealistisch und theoretisch verstanden, kritisiert Dôgen. Als Beispiel für
dieses falsche Verständnis führt er die Lehre des Brahmanen Senika an, der den altindischen Glauben
des atman vertrat.[i] Das
ist ein vorgestellter, ewiger, unveränderbarer und dinghafter Geist-Kern, der in den veränderlichen Körpern durch die
verschiedenen Inkarnationen schließlich ins Nirvâna eingehen soll. Senika hat
damit losgelöst von der Praxis und dem Alltag eine – wie ich meine – verführerische Theorie entwickelt, wie
man allein durch philosophische
Überlegungen ein schönes, störungsfreies Leben führen und das Leiden
wegdividieren kann.
Ein solcher Glaube ist
leider auch in der europäischen Philosophie immer wieder anzutreffen, er führt
nicht selten zur naiven Einschätzung der Realität. Zum Beispiel hat die
Mehrheit der deutschen Philosophen die Machtergreifung Hitlers und der
Faschisten unterstützt und deren Gefahren völlig falsch eingeschätzt: Aus
heutiger Sicht total unverständlich!
Auch wenn man annimmt, dass
der vorgestellte Ich-Kern (atman)
Senikas das erleuchtete Selbst sei,
bleibt alles im denkenden Geist gefangen und hat damit nur eine geringe
Relevanz für unser reales Leben. Ein denkender isolierter Geist allein kann die
Probleme der Welt nicht lösen. Idealistisches Denken ist sicher ein erster
wichtiger Schritt zur Wahrheit und kann die nötigen Anfangsimpulse und
motivierende Kräfte erzeugen.
Die Buddha-Natur als Idee
allein reicht jedoch bei Weitem nicht aus und führt zu unlösbaren theoretischen
Paradoxien und Widersprüchen. Entscheidend ist ein ausdauernder und längerer
Lernprozess von Körper-und-Geist; nur er kann die Umwandlung des eingeengten Ich
zur Buddha-Natur verwirklichen.
Dôgen sagt über Menschen wie
Senika, die falschen Vorstellungen anhängen:
„Dies ist so, weil sie dem Menschen
nicht (wirklich) begegnen, weil sie sich nicht selbst begegnen und weil sie
keinem (echten) Lehrer begegnen.“
Sie würden töricht und oberflächlich
ihre engen Vorstellungen von Geist, Willen oder Bewusstsein mit der Buddha-Natur
verwechseln. Begriffe und Vorstellungen wie „erleuchtetes Wissen und Verstehen“ reichten ebenfalls nicht aus,
und man müsse über sie hinausgehen und
praktizieren, denn „die Buddha-Natur
ist jenseits von erleuchtetem Wissen und erleuchtetem Verstehen“. Beides
ist auf das Denken beschränkt. Wir müssen jedoch einfach und bescheiden davon
ausgehen, dass die Buddha-Natur für den denkenden Verstand unfassbar ist und
dass es zu einer klaren erweiterten Intuition durch die Praxis und das Handeln
kommen muss.
Dôgen erklärt, dass bei
Menschen mit irrigen Vorstellungen das Streben nach der Wahrheit sogar immer
weiter von der Buddha-Natur wegführt, und er sagt, dass sie „wegen dieses
Irrtums schuldig“ sind.[ii] Uns
als den nachfolgenden Generationen rät er daher dringend, von solchen
oberflächlichen und nicht belastbaren Theorien Abstand zu nehmen. Es ist für
mich einleuchtend, dass er gerade deswegen dieses sehr umfangreiche, umfassende
und tiefgründige Kapitel über die Buddha-Natur geschrieben hat.