Montag, 5. September 2016

Der Mensch Nangaku als Buddha-Natur


Dann erinnert Dôgen an den berühmten Ausspruch Daikan Enôs, als dessen späterer Schüler Nangaku zu ihm kam und um Aufnahme ins Kloster bat: „Etwas Unfassbares kommt wie dies.“[i] Mit dem Unfassbaren ist der Mensch Nangaku als Buddha-Natur gemeint. Dôgen will damit klarstellen, dass der Mensch mit Worten und Denken allein nicht erfasst werden kann, also letztlich immer auch ein Mysterium ist. Das hat aus meiner Sicht eine hohe allgemeine Bedeutung, weil sich die tiefe Achtung vor anderen Menschen und überhaupt vor allen Lebewesen daraus ganz selbstverständlich ergibt.


Eine analoge Aussage der heutigen Sozialwissenschaften hebt hervor, dass die Komplexität der Welt und insbesondere der sozialen lebenden Systeme unendlich groß ist und sich daher niemals erschöpfend erforschen lässt. Das widerspricht radikal einer naiven Fortschrittsgläubigkeit der Wissenschaft, die meint, in Zukunft könne man alle Rätsel dieser Welt lösen und alles mit naturwissenschaftlichen Gesetzen erklären.

In besonderem Maße gilt die Unfassbarkeit für das menschliche Gehirn, sodass die Behauptung mancher engstirniger Gehirnforscher, man könne eines Tages in der Zukunft alle geistigen Prozesse durch die Funktionsweise unseres neuronalen Netzes begründen, unrealistische Spekulation ist. Das gilt natürlich in besonderem Maße für die spirituelle Wirklichkeit des Augenblicks.
Dôgen präzisiert seine Aussage weiter:

„Die totale unfassbare lebendige Wirklichkeit ist die Buddha-Natur, und die vollkommene Ganzheit der unfassbare Wirklichkeit wird ‚Lebewesen‘ genannt.“

Er fügt hinzu, dass die Buddha-Natur als totale Existenz und totales Leben genau in diesem Augenblick das Innere und Äußere der Lebewesen ist.
Die Buddha-Natur ist keine unkörperliche Essenz der Lebewesen, sondern immer in der Einheit mit der Form und dem Körper.

Denn sie beschränkt sich nicht auf die physischen Aspekte der Lebewesen – dies wäre eine sehr eingeschränkte materialistische Sichtweise. Auch wenn man die Buddha-Natur nur als isolierte körperliche Entität verstehen würde, wäre dies materieller Objektivismus, der nur eine bestimmte Perspektive der Wirklichkeit umfassen würde, aber nicht die Gesamtheit von Körper-und-Geist. Nach buddhistischer Lehre kann es keinen isolierten Geist ohne den Körper geben, und insbesondere besteht der Geist nicht nur aus Gedanken und Ideen. Außerdem kann er mit Worten nicht vollständig beschrieben werden, denn der Geist kann sich auch ohne Worte ausdrücken.[ii] Ganz verkürzt könnte man sogar sagen, der

Zen-Geist ist identisch mit der Buddha-Natur, und er ist die ursprüngliche Natur des Menschen und der Lebewesen.

Dies gilt aber nicht abstrakt als rein theoretische Aussage, sondern ereignet sich jeweils im Augenblick der Praxis und des Handelns im Einklang mit der Ethik.

Dieser Zustand der Buddha-Natur im Augenblick ist laut Dôgen umfassend und schließt alles ein, und ich folge ihm dabei ohne Wenn und Aber. Er verdeutlicht diese zentrale Aussage anhand der überlieferten Geschichte, wie Bodhidharma die Dharma-Nachfolge an seine Schüler übermittelte und sagte: „Ihr habt meine Haut, mein Fleisch, meine Knochen und mein Mark.[iii]

Bei der Übertragung des wahren Dharma geht es also um die Einheit von Körper-und-Geist des Meisters mit seinen Nachfolgern. Die Übertragung ist kein abstrakter oder ideeller Vorgang, sondern die ganz konkrete Wirklichkeit des Handelns dieser Menschen im Jetzt.




[i] Kap. 62, ZEN Schatzkammer, Bd. 3, S. 34 ff.: „Das umfassende Erforschen der buddhistischen Lehre und Praxis (Hensan)“
[ii] Kap. 18 und 19, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 161 ff.: „Der Geist kann mit dem Verstand nicht erfasst werden, erste Version (Shin fukatoku)
[iii] Kap. 46, ZEN Schatzkammer, Bd. 2, S.178 ff.: „Das Gleichnis der Verflechtung für die Dharma-Übertragung (Katto)