Dann erinnert Dôgen an den
berühmten Ausspruch Daikan Enôs, als dessen
späterer Schüler Nangaku zu ihm kam
und um Aufnahme ins Kloster bat: „Etwas Unfassbares kommt wie dies.“[i] Mit
dem Unfassbaren ist der Mensch Nangaku als Buddha-Natur gemeint. Dôgen will
damit klarstellen, dass der Mensch mit Worten und Denken allein nicht erfasst
werden kann, also letztlich immer auch ein
Mysterium ist. Das hat aus meiner Sicht eine hohe allgemeine Bedeutung,
weil sich die tiefe Achtung vor anderen Menschen und überhaupt vor allen
Lebewesen daraus ganz selbstverständlich ergibt.
Eine analoge Aussage der
heutigen Sozialwissenschaften hebt hervor, dass die Komplexität der Welt und
insbesondere der sozialen lebenden
Systeme unendlich groß ist und sich daher niemals erschöpfend erforschen
lässt. Das widerspricht radikal einer naiven Fortschrittsgläubigkeit der
Wissenschaft, die meint, in Zukunft könne man alle Rätsel dieser Welt lösen und
alles mit naturwissenschaftlichen Gesetzen erklären.
In besonderem Maße gilt die Unfassbarkeit für das menschliche Gehirn,
sodass die Behauptung mancher engstirniger Gehirnforscher, man könne eines
Tages in der Zukunft alle geistigen Prozesse durch die Funktionsweise unseres
neuronalen Netzes begründen, unrealistische Spekulation ist. Das gilt natürlich
in besonderem Maße für die spirituelle Wirklichkeit des Augenblicks.
Dôgen präzisiert seine Aussage
weiter:
„Die totale unfassbare lebendige
Wirklichkeit ist die Buddha-Natur, und die vollkommene Ganzheit der unfassbare
Wirklichkeit wird ‚Lebewesen‘ genannt.“
Er fügt hinzu, dass die
Buddha-Natur als totale Existenz und totales Leben genau in diesem Augenblick das Innere und Äußere der Lebewesen ist.
Die Buddha-Natur ist keine unkörperliche Essenz der Lebewesen, sondern immer in der Einheit mit der Form und dem Körper.
Denn sie beschränkt sich
nicht auf die physischen Aspekte der Lebewesen – dies wäre eine sehr
eingeschränkte materialistische Sichtweise. Auch wenn man die Buddha-Natur nur
als isolierte körperliche Entität verstehen würde, wäre dies materieller
Objektivismus, der nur eine bestimmte Perspektive der Wirklichkeit umfassen
würde, aber nicht die Gesamtheit von Körper-und-Geist. Nach buddhistischer
Lehre kann es keinen isolierten Geist
ohne den Körper geben, und insbesondere besteht der Geist nicht nur aus
Gedanken und Ideen. Außerdem kann er mit Worten nicht vollständig beschrieben
werden, denn der Geist kann sich auch ohne Worte ausdrücken.[ii] Ganz
verkürzt könnte man sogar sagen, der
Zen-Geist ist identisch mit der
Buddha-Natur, und er ist die ursprüngliche Natur des Menschen und der
Lebewesen.
Dies gilt aber nicht
abstrakt als rein theoretische Aussage, sondern ereignet sich jeweils im
Augenblick der Praxis und des Handelns im Einklang mit der Ethik.
Dieser Zustand der Buddha-Natur
im Augenblick ist laut Dôgen umfassend und schließt alles ein, und ich folge
ihm dabei ohne Wenn und Aber. Er verdeutlicht diese zentrale Aussage anhand der
überlieferten Geschichte, wie Bodhidharma
die Dharma-Nachfolge an seine Schüler übermittelte und sagte: „Ihr habt meine Haut, mein Fleisch, meine
Knochen und mein Mark.“[iii]
Bei der Übertragung des
wahren Dharma geht es also um die Einheit von Körper-und-Geist des Meisters mit
seinen Nachfolgern. Die Übertragung ist kein abstrakter oder ideeller Vorgang,
sondern die ganz konkrete Wirklichkeit des Handelns dieser Menschen im Jetzt.
[i] Kap. 62, ZEN Schatzkammer, Bd. 3, S. 34 ff.: „Das
umfassende Erforschen der buddhistischen Lehre und Praxis (Hensan)“
[ii] Kap. 18 und 19, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 161 ff.:
„Der Geist kann mit dem Verstand nicht erfasst werden, erste Version (Shin fukatoku)“
[iii] Kap. 46, ZEN
Schatzkammer, Bd. 2, S.178 ff.: „Das
Gleichnis der Verflechtung für die Dharma-Übertragung (Katto)“