Für unseren buddhistischen Weg der Befreiung
benötigen wir verlässliche Fakten und Grundlagen, sonst werden wir später enttäuscht
und folgen irgendwelchen Versprechen, die nicht eingelöst werden. Was sind nun die
verlässlichen Grundlagen? Buddha und Nagarjuna verstehen die Wirklichkeit als gemeinsames Entstehen in Wechsel-Wirkung und bauen darauf den WEG als menschlichen
Prozess der Befreiung, Emanzipation und Weiterentwicklung auf. Nishijima Roshi
und ich folgen ihnen dabei. Dazu gehört nicht zuletzt die Meditation des
Achtfachen Pfads, zum Beispiel des Zazen nach Dogen: die Entleerung des Geistes
von Verhärtungen, Vorurteilen und Doktrinen.
Im ersten Kapitel des MMK werden in einem
„Rundum-Schlag“ Fehlentwicklungen, Dogmatisierungen, naiver Volks-Buddhismus,
Populismus und unnötige intellektuelle Verwirrungen der damaligen Zeit konsequent
angegangen und überzeugend richtig gestellt. Das ist ein radikales Vorgehen,
das für mich auch in der heutigen Zeit ins „Schwarze
trifft“.
Welche Eckpunkte werden behandelt?
Zunächst geht es um den falsche Glauben, dass Irgendetwas in der Welt total aus sich
selbst entstanden sei, so etwas könne man in der Realität nicht erkennen.
Alles entsteht in Wechsel-Wirkung und ist miteinander vernetzt; das wird auch eindeutig
durch die Gehirnforschung nachgewiesen und hat weit reichende Folgen für den
Buddhismus. Besonders wichtig ist dieser Fakt für die heutigen Menschen: Wer in
narzisstischer Selbst-Überschätzung
an sein eigenes Ich als alleinigen unwandelbaren Mittelpunkt der Welt glaubt,
liegt völlig falsch. Irgendwann wird er dann vereinsamen, keine echte Freude im
Leben haben und depressiv werden. Und: Der
Starke ist am schwächsten allein, wenn er sich isoliert.
Und weiter. Nagarjuna nennt vier Faktoren dieser Wechsel-Wirkungen:
die Veranlassung,
dass etwas Bestimmtes passiert (häufig als „Ursache“ bezeichnet);
die strukturellen
Stütze z. B. die materiellen Umgebung;
die zeitliche
Abfolge von Prozessen und
etwas Übergeordnetes,
wie z. B. der Sinn in unserem Leben.
Weitere Faktoren gibt es nach Nagarjuna nicht. Sie
sind m. E. direkt nachvollziehbar und im Einklang mit der modernen
Systemtheorie. In manchen buddhistischen Linien gibt es einhundert und mehr
derartige Faktoren, die dann noch weiter unterteilt werden. Davon hält der
Autor also nichts. Ich folge ihm, weil das Zentrale des WEGes unsere eigene Entwicklung
und Befreiung ist und keine komplizierten Schemata von statischen Bedingungen,
die uns angeblich determinieren.
Durch unser eigenes
Tun und Handeln, also durch unsere eigenen Kräfte, Energien und Therapien,
können wir auf die genannten wechsel- wirkenden Faktoren einwirken. Wir müssen
nicht alles passiv erdulden und hinnehmen, sondern können aktiv durch die von
uns selbst gesteuerten Prozesse eingreifen. Dabei sind gute Lehrer besonders hilfreich, schlechte Lehrer aber sehr gefährlich,
wie auch Dogen betont.
Wenn bei den Menschen überhaupt Nichts entsteht, also Statik oder
Erstarrung vorherrscht, gibt es auch keine Veränderungen zum Guten. Dann
verkümmert unser neuronales Netz in unserem Kopf immer mehr, und Kreativität
und Freude im Leben verschwinden. Das passiert, wenn man Doktrinen einfach übernimmt
und nicht hinterfragt, ganz gleich, ob sie nun als heilig verkündet werden oder
nicht. Es kommt immer auf die eigene Erfahrung an.
Nagarjuna fragt, was wir in unserem Leben realistisch
erreichen und erzielen wollen. Welche Ergebnisse und welches „Erzieltes“
streben wir sinnvoller Weise an und welche romantischen Utopien oder
Dumpfheiten schaden uns? Buddha sagt: "Es ist sinnlos zu wünschen, was
nicht wünschbar ist". Wir müssen uns davor hüten zu glauben, dass ein erwünschtes Ergebnis ohne Wechsel-Wirkung und eigenes Tun „vom
Himmel fällt, so als ob es schon fertig irgendwo
vorhanden gewesen wäre (Doktrin einer unveränderlichen isolierten Substanz oder Entität). Das wäre eine Ideologie von Ergebnissen ohne zeitliche
Prozesse, wie ein isoliertes
unveränderliches Ding und ist besonders irreführend und realitätsfremd: Es
ist die verführerische Scheinwelt von
Populisten. Und solche gibt es nicht nur in der Politik sondern leider auch
im Buddhismus.
In der vor-buddhistischen indischen Philosophie
wurde angenommen, dass die Welt aus unveränderlichen
Bausteinen, den Dharmas,
aufgebaut und zusammengesetzt ist. Sie wurden sogar als ewige Dinge und Phänomene bezeichnet.
Nagarjuna warnt uns eindringlich davor, dass wir uns diese Bausteine als unveränderliche und unteilbare Atome und
Ideen vorstellen. Denn wenn sich alles in der Welt verändert, kann es auch
keine unveränderlichen materiellen und geistigen Bausteine geben. Wir wissen
heute, dass auch Atome teilbar sind und sich in kleinste Prozesse von Energien
umwandeln können. Die Doktrin von Geistes-Bausteinen ist völlig unhaltbar.
Diese alte vor-buddhistische Philosophie kann
nämlich Wechsel-Wirkungen, Prozesse und Veränderungen der Realität nicht erklären, sie ist daher mit
Buddhas Lehre und unserer Erfahrung der sich entwickelnden Veränderungen überhaupt
nicht vereinbar. Solche vagen und ungesicherten Doktrinen sind für uns Menschen
und unsere geistigen und psychischen Prozesse der Befreiung, Emanzipation und
Entwicklung völlig unbrauchbar und eindeutig irreführend. Sie waren zu
Nagarjunas Zeiten unterschwellig in neuem Gewand wieder erstarkt und sind
leider auch heute z. T. zu beobachten.
Im
Buddhismus geht es um positive
Veränderungen, deren Ergebnisse oft als Früchte
oder Verdienste bezeichnet werden. Im Volks-Buddhismus gibt es zudem den
Glauben und die Hoffnung, dass diese Früchte
des jetzigen Lebens einfach und unverändert durch die Wiedergeburt zum nächsten
Leben weitergegeben werden. Aber so einfach ist das nicht, wie Nagarjuna
nachweist. Dabei würden auch die Früchte fälschlich als isolierte Dinge (Entitäten) und ohne Wechsel-Wirkungen verstanden.
Nagarjuna
destruiert einen solchen Glauben, und
sei er noch so feinsinnig mit scharfsinnigen angeblich unabweisbaren Argumenten
begründet. Sie sind in sich widersprüchlich und nicht haltbar. Er warnt uns
eindringlich davor, irgendetwas naiv und unreflektiert zu glauben oder uns
auszudenken, was wir uns zwar so sehr
wünschen, das aber nicht mit der erfahrbaren Wirklichkeit übereinstimmt. Es
muss zu Enttäuschungen und Stillstand
führen. Wir kommen so auf dem Weg der Befreiung nicht voran:
Nicht ein fernes
erträumtes Ergebnis ist der Mittlere WEG der Überwindung von Hindernissen und
Blockaden (abgehobener Idealismus), sondern Befreiung durch unser klares aufrichtiges
Handeln im konkreten Hier und Jetzt!