Die Koan-Frage seiner Meisters lautete:
"Sag
mir einen Satz über den Zustand, den du hattest, bevor deine Eltern geboren
waren, ohne dass du aus irgendeinem Text oder Kommentar zitierst.“
Er strengte seinen Körper und Geist an, so sehr es
ihm überhaupt möglich war, und er versuchte, sein umfangreiches Wissen aus den
Schriften und buddhistischen Sûtras auszublenden, aber ohne jeden Erfolg.
Shikan verließ schließlich das Kloster und folgte den
Spuren des großen Landesmeisters Daisho[1]. Er zog
sich auf einen Berg zurück und lebte dort allein, im
Einklang mit der Natur und der buddhistischen Wahrheit. An dem Ort, an dem auch
der legendäre Meister gelebt hatte, baute sich Shikan eine einfache Hütte mit
einem Strohdach. Er pflanzte Bambus und – wie Dôgen es ausdrückt – „machte ihn
zu seinem Freund“.
Eines Tages geschah etwas für ihn völlig Unerwartetes: Als er seinen Weg
vor der Hütte fegte, löste sich ein Kieselstein vom Boden, traf auf das Rohr
des Bambus und erzeugte dabei einen Ton: „Bong“ !! Indem Shikan jäh und unmittelbar den Ton wirklich und ohne
jeden intellektuellen und doktrinären Anspruch hörte, war er direkt in der
Wirklichkeit angekommen. „Bong“ – das ist die Wahrheit zu hören, das ist die
Natur: einfach, direkt und unkompliziert! Und die Wahrheit der Natur ist auch
im Universum und in uns selbst. So einfach und wunderbar sind das Leben und das
Universum.
Shikan nahm ein erfrischendes Bad, reinigte sich
gründlich, entzündete ein Räucherstäbchen und machte in tiefer Dankbarkeit
Niederwerfungen in die Richtung des Berges und Klosters seines Meisters Dai-i.
Der Klang des Kieselsteins, der das Bambusrohr traf, vertrieb alle überkomplexen Theorien,
Vorstellungen und angestrebten Ziele. Weil er wirklich hörte: Bong, klar, wunderbar, groß! Plötzlich waren die
Wirklichkeit und Shikan selbst eine umfassende strahlende Ganzheit.
Gerade die enge Beziehung zur Natur und die Offenheit
dafür sind eine große Chance, zur Wirklichkeit und Wahrheit zu finden. Dann wird
die ich-zentrierte Selbstinszenierung[2] oder
eigene narzisstische Überhöhung[3] völlig
ausgeschaltet. Gerade intellektuell hochbegabte Menschen mit einem scharfen
Verstand und einem hervorragenden Gedächtnis für die Lehren und Kommentare
geraten besonders in Gefahr, einer Selbstüberschätzung zu erliegen.
Dadurch wird jedoch der direkte Zugang zum Sehen,
Hören und zur Wirklichkeit versperrt, denn diese verwirklichen sich jenseits
von analytisch geprägter Kompetenz und ausgefeilter Rhetorik und festgelegtem
Reflexionsvermögen.
Dôgen zitiert dazu Shikan:
„Der große Meister Shikan verfasste schließlich die
folgenden Verse:
‚Bei einem
einzigen Aufprall (des Kiesels) verlor ich das (alte) Erinnern,
nicht länger
muss ich (starre) Selbstdisziplin üben.
Es gibt
keine Spuren irgendwo:
Das wahre
Verhalten geht über Ton und Form hinaus.‘“