(Von G. W. Nishijima, aus
"Sternstunden des Buddhismus")
"Wir haben einen Schlüssel, um Meister Dōgens Shōbōgenzō wirklich zu verstehen und nicht an scheinbaren
Widersprüchen und Paradoxien zu verzweifeln. Dieser Schlüssel erschließt besser den großen Wert dieses Werkes. Ich habe ihn im Laufe meines
langen Lebens entwickelt und immer mehr verfeinert. Es handelt sich dabei
um die umfassende Lehre der sogenannten vier Sichtweisen oder
Lebensphilosophien, die Meister Dōgen in dem Kapitel „Das verwirklichte Leben
und Universum“ (Genjō-kōan)
beschreibt.[i]
Die volle Wirklichkeit des Lebens und der Welt sind danach weder durch
den intellektuellen Verstand noch durch die sinnliche Wahrnehmung allein ganz und vollständig zu erfassen. Denn beide ermöglichen nur Teilsichten
und Teilwahrheiten, die durch ihre
Einseitigkeit als umfassende Philosophien letztlich für das praktische Leben
ungeeignet sind. Sie führen daher zwangsläufig zu verschiedenen Formen des Leidens
führen.
Die beiden ersten Lebensphilosophien sind die im Westen vorherrschenden
Lehren des Idealismus und Materialismus, des Denkens und der
Materie. Gautama Buddha und Meister Dōgen zufolge muss als dritter Bereich das Handeln und Erfahren im gegenwärtigen
Augenblick, also im Hier und Jetzt, hinzukommen. Dann können wir die enge
Perspektive des Subjekts überschreiten und uns dadurch wesentlich befreien. Bei
der Zazen-Praxis und im Alltag eröffnet sich durch das direkte Handeln im Hier
und Jetzt eine neue Wirklichkeit, die
zum Kern der buddhistischen Lehre gehört.
Die vierte umfassende Lebensphilosophie des Buddhismus ist das Erwachen
oder die Erleuchtung, also die Befreiung. Sie enthält integrierend auch die
drei ersten genannten Teilbereiche. Das Erwachen geht aber über diese Bereiche
hinaus und bildet den „Schlussstein“ des
buddhistischen Lehrgebäudes und der Praxis. Wenn die umfassende buddhistische
Lehre im Einklang mit der Zazen-Praxis und dem täglichen Handeln steht, nenne
ich das die zweite Erleuchtung.
Meister Dōgen formuliert dies im Kapitel Genjō-kōan wie
folgt:
„Selbst wenn dies alles so ist, fallen die Blüten,
während sie geliebt werden, und wuchert das Unkraut, während es nicht geliebt wird.“[ii]
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Damit will er sagen, dass wir über unsere kleinen Wünsche, Hoffnungen,
Ängste und Erwartungen, an die wir uns klammern, hinausgehen müssen. Wir müssen
sie als solche erkennen und ihnen die einengende Kraft nehmen, um zur Wahrheit
des Buddha-Dharma und des Lebens zu gelangen. Denn diese wirkliche Welt ist so,
wie sie ist: rein, ohne Bedauern, kraftvoll und voller Dynamik. Warum sollten
wir ihr entfliehen? Ich bin der festen Überzeugung, dass wir mit den vier
Lebensphilosophien den Schlüssel für die Lehren Gautama Buddhas und Meister
Dōgens in der Hand halten und das großartige Werk Shōbōgenzō damit erschließen können."