Dōgen greift das bekannte Kōan-Gespräch
auf, in dem Meister Shinzan fragte:
„Wer ist es“, der den Geist und die Natur dort in dem kleinen Tempel darlegt?
Diese Frage zielt nicht auf
die Äußerlichkeit eines Meisters oder eines Menschen und auch nicht auf den
bürgerlichen oder buddhistischen Namen, den sie haben. Es geht um die unfassbare Gesamtheit eines Menschen,
der nicht in abgegrenzte Kategorien
und geistige Schubladen gesteckt
werden kann. Es ist sicher keine Übertreibung zu sagen, dass der Mensch ein Wunder und Mysterium ist.
Auch im wissenschaftlichen Bereich stellt zum Beispiel die moderne
Systemtheorie[i]
fest, dass Menschen und soziale Gruppen eine unendliche Komplexität besitzen, die wir niemals ganz erforschen
können. Ein solches Ansinnen ist aussichtslos und endet meistens in grob
vereinfachenden Ideologien und Bewertungen.
Wesentlich ist genau der Augenblick, in dem ein Meister fragt
„Wer ist es?“ und in dem der andere Meister eine jähe umfassende Klarheit erfährt. Dies ist nach Dōgen die Darlegung des
Geistes und der Natur des Buddha-Dharma.
Im Gegensatz dazu gibt es in
der gewöhnlichen Welt viele Verirrungen, Täuschungen und Betrügereien des
Geistes. Ein sich geschickt verhaltender Betrüger kann sich zum Beispiel wie
ein Kind gebärden, sodass bei anderen kein Misstrauen aufkommt. Umgekehrt
werden Kinder vielleicht fälschlich moralisch abgewertet, indem man ihnen böse
Absichten und Unehrlichkeit unterstellt. Der isolierte Geist kann vielfältig getäuscht werden.
Im Kōan-Dialog sagt Meister
Tozan, dass er unmittelbar im Leben angekommen ist und seine vorherigen
Täuschungen und Begrenzungen „gestorben“ sind; er befindet sich also in der
unmittelbaren Wirklichkeit von Geist und Natur. In dem Gespräch heißt es
wörtlich auch: „Es ist wer?“ Das Es oder Etwas behandelt Dōgen in einem
gesonderten Kapitel. Ich möchte für dieses Etwas sogar den Begriff des
Göttlichen verwenden, denn es weist über den individuellen Menschen hinaus und
ist die Einheit von Mensch, Leben und
Universum, eine Einheit des gemeinsames Entstehens in Wechselwirkung, wie
Meister Nagarjuna in den Versen des Mittleren Weges sagt.
Der kurze Satz „Es ist wer?“
ist eine andere Bezeichnung für den höchsten Zustand in der buddhistischen
Lehre und Praxis. Dabei sei es unwesentlich, inwieweit dies bewusst ist und
explizit gedacht wird. In dem Augenblick gibt es bei den Menschen die Einheit
von Angesicht-zu-Angesicht und ein intuitives
umfassendes Verständnis füreinander. Der andere wird nicht durch eine
einseitige Sichtweise eingeengt und kategorisiert.
Dōgen bedauert, dass es wohl
nicht viele Menschen gibt, welche die Darlegung von Geist und Essenz der Natur
gemeistert haben. Wenn der bisherige Körper und Geist stirbt, so sterbe er ganz, zu einhundert Prozent, und nicht nur
teilweise, zu etwa zehn oder 20 Prozent:
„Genau in dem Augenblick, in dem wir
gefragt werden (gilt): Wer kann sagen, dass dieser Zustand nicht den ganzen
Himmel umfasst und die ganze Erde einbezieht.“
Wesentlich sei, dass wir
ganz im Augenblick und in der Situation wirklich sind und leben. Jeder
Augenblick verwirklicht sich in der Freiheit und ist damit auch nicht
festgelegt von dem, was vorher war. So schreitet die Wirklichkeit und Wahrheit
von Geist und Essenz der Natur Augenblick für Augenblick voran und umfasst
dabei jeweils die ganze Erde und das ganze Leben.
Die Formulierung „Es ist
wer?“ betrifft genau den Zustand, den Geist und die Natur darzulegen und zu
lehren. Die einfache Frage nach dem Meister, der in dem kleinen Kloster lehrt,
weist damit über die Person hinaus zu einer tiefgründigen Wahrheitsaussage.
Dadurch gelangt Meister Tozan in den befreiten Zustand, in dem die ehemaligen
Begrenzungen und Hindernisse ganz und gar aufgehoben sind. Gleichzeitig wird
klar, dass Worte und Erklärungen auch ihre Grenzen haben und gewissermaßen über
sich selbst hinaus weisen müssen, um die große Wirklichkeit und Wahrheit zu
treffen. Für den höchsten Zustand im Buddhismus ist nicht zuletzt maßgeblich,
dass Sorgen und Ängste verschwunden und damit gestorben sind. Illusionen und
Täuschungen genau wie Verdrängungen und Leugnungen sind immer nur eine
unzureichende vordergründige Lösung psychischer Probleme. Die daraus
entstehenden Ängste können nicht wegdiskutiert werden, sie sind psychische
Realität. Man kann sie auch nicht einfach wegwerfen, weil man sie loswerden
will – genauso wenig wie die Dualität, die eine wesentliche Ursache der
Lebensängste und Leiden ist.
„Die Worte
des großen Meisters ‚Der Tod selbst ist lebendig geworden‘ sind die
Manifestation der Stimme und Form von jemandem direkt vor uns, der den Geist
darlegt und die Natur erklärt“,
sagt Dōgen. Die Lebendigkeit
existiert für sich selbst als erwachter Körper-und-Geist. Leben ist nicht die
Transformation des Todes. Dies sei die große Wahrheit der Buddhas und Vorfahren
im Dharma und sollte auf diese Weise gelehrt werden. Das „alte Leben“ sollte
vollständig zu Tode kommen, dann „verwirklichen wir den leuchtenden Zustand,
ins Leben zu kommen.“
Am Ende dieses Kapitels
fasst Dōgen zusammen, dass die Aussage
„Den Geist darlegen und die Natur (der
Essenz) erklären“
häufig falsch interpretiert
worden ist. Dies sei seit der Tang-Dynastie in China nicht anders als in Japan,
und ich möchte hinzufügen: bis in die Gegenwart. Es geht um die Einheit von Geist, Lehren, Praxis und
Erfahrung. Nicht mehr und nicht weniger. Ohne Praxis und Erfahrung sind
alle Vorstellungen und Theorien über den Geist wirklichkeitsfremd und
spekulativ. Sie führen vom Leben weg in eine abgehobene Welt, die den
praktischen Anforderungen des Alltags nicht gewachsen ist. Das ist aber kein
Buddhismus.
Dōgens Schlusssatz
formuliert prägnant den Kern dieses Kapitels:
„Wenn ich es in Worte fasse: Den Geist
darzustellen und die Natur zu erklären, ist die zentrale Essenz der Sieben
Buddhas und der alten großen Meister.“